Vor dem Ruhestand Kritik von Christian Schütte

von Christian Schütte

[...] Geht es darum in dem Stück? Um das Bewältigen von Vergangenheit? Um das Verkraften einschneidender Lebensveränderungen? Um politische Satire? Alles sind Themen, die Thomas Bernhard hier herausstellt. Aber es geht vor allem auch um eins, und das stellt die Aufführung des Mittwoch:Theaters klar heraus: um die Geschichte einer vollkommen gescheiterten, an sich selbst krankenden Familie.

Vera (Rosa Pohl) und Rudolf (Hans-Jürgen Mitschke) haben eine Beziehung, die über das übliche zwischen Geschwistern weit hinausgeht: Vera ist ihrem Bruder Rudolf verfallen. Clara (Judith Jungfels), durch einen Bombenangriff im Krieg querschnittsgelähmt, darf zwar bei ihren Geschwistern leben, das Verhältnis aber ist verhasst und kalt. Die Perversion des Zusammenlebens der Geschwister erreicht jedes Jahr zu Himmlers Geburtstag ihren Höhepunkt: „Voriges Jahr hat er Dich gezwungen die KZ-Jacke anzuziehen, heute nicht. Und ich habe dir die Haare scheren müssen voriges Jahr …" Dieser Satz, den Vera zu Clara sagt, fasst alles zusammen, was das Verhältnis der drei zueinander ausmacht.

Ein verstörendes Stück, das boshaft ist, dabei nie Plakativ‘ So ist Thomas Bernhard dem Ensemble des Mittwoch-Theaters gehört, bei aller merkbaren Premierennervosität, großer Respekt: Sie haben Mut, dieses Stück aufzuführen. Der Besuch einer Aufführung lohnt sich schon deshalb.



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